Semperviven-Haltung - eine moderne Liebhaberei mit langer Vergangenheit

von Manuel Werner, Nürtingen

 

In den letzten Jahren nahm die Semperviven-Begeisterung in Deutschland wieder einen rasanten Aufschwung, nachdem die Hauswurz-Liebhaberei - von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen - fast in einen "Dornröschenschlaf" verfallen war - einen "Steinröschenschlaf" hätte ich fast gesagt. Dass dieser Schlaf nicht zu einem völligen Tiefschlaf, ja zum Koma wurde, dafür sorgten tatkräftige Begeisterte wie die motivierenden jungdynamischen "Altmeister" Martin Haberer, Fritz Köhlein, usw..

Doch in den letzten dreizehn Jahren sah ich mich immer als den einzigen verzückten Besucher der Kollektion in Martin Haberers Garten. Dazu führte mir ein immer traurigeres Schicksal der mehr und mehr vernachlässigten Semperviven-Sammlung im Botanischen Garten Tübingen die sonstige Versunkenheit und Vergessenheit der von mir so geliebten Hauswurze drastisch vor Augen. Dies ging so lange, bis ich, wohl 1998/99, in Martins Garten plötzlich einen weiteren "Semperviven-Vernarrten" wahrnahm: einen Züchter, der eigens aus Bayern "hergerauscht" war, den Kofferraum voll mit eigenen Kreationen, ich denke, es war Volkmar Schara. Die Gründung der Fachgruppe "Sempervivum und Jovibarba" im Frühjahr 1999 markiert vollends diese hoffnungsvolle Wende, wobei für mich die Entdeckung von Gérard Dumonts Homepage "Sempervivophilia" (= Hauswurz-Liebhabereien) ein knappes Jahr vorher schon glücklich machte, denn ein weiterer Seelenverwandter und viel lohnender Lesestoff war gefunden, nachdem die altehrwürdige "Sempervivum-Society" ihren Geist ausgehaucht hatte ....

Eigentlich ist dieser neue Enthusiasmus nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei der Beziehung zwischen Hauswurz und Mensch um eine sehr weit zurück reichende Liebesgeschichte ... . Hauswurze wurden - so Gérard Dumont - seit der Antike als pflanzliche Schutzmittel gegen Pflanzenschädlinge genutzt, später als Zauberpflanzen, als Schutz gegen Blitzschlag, als Heilpflanzen, und nicht zuletzt auch um ihres Zierwertes willen. Und "alte Liebe rostet nicht", so heißt es wenigstens.

Die ältesten Spuren in der Antike

Je weiter man zurückblättert in dem Album dieser langen Liebesbeziehung, desto trüber und verschwommener wird die Dokumentation. Bei den ersten schriftlichen Erwähnungen aus der griechischen Antike wissen wir nicht so recht, welche Pflanzen genau mit der Bezeichung "aeizoon" (= immer lebend) gemeint sind, auf alle Fälle waren es immergüne, sukkulente Pflanzen, die auf Mauern und auf Dächern wuchsen, Hauswurze oder Sedum-Gewächse, und Aeonium höchstwahrscheinlich. Vermutlich wurden diese verwandten, doch unterschiedlich geformten Pflanzengruppen damals gar nicht sehr voneinander geschieden, weil die Sicht und die Ordnung des Lebendigen damals eine andere war als heutzutage: Die Pflanzen wurden nach ihrem Nutzen eingeteilt, und nach ihrer Größe.

Römische Agronomen nennen den Saft von Sedum - in anderen Quellen von aizoon - als nützlich gegen Pflanzenschädlinge, besonders gegen Raupen. Ja, in einer dieser Quellen taucht erstmalig der Begriff Sempervivum auf: Der Sempervivum-Saft sei nützlich gegen Raupenbefall, und man solle vorher die Samen, die man säen will, darin tränken.

Wenn man sich den Kontext dieser Quelle vergegenwärtigt, bekommt die Bedeutung des Begriffs Sempervivum einen ganz anderen Zungenschlag als in den sonst gelesenen Erklärungen. Der Saft macht immer lebend, widerstandsfähig gegen Raupenbefall, er ist "Sempervivum-Saft".

Andere Erklärungen des Begriffs Sempervivum gehen dahin, dass diese Pflanzen immergrün sind (gemeint ist: auch im Winter), und somit wie andere Immergrüne als Symbol ewigen Lebens gelten. Ebenfalls in diese Richtung geht, dass diese Pflanzen widrige Verhältnisse überstehen wie Dürre und Frost, dass die Rosetten-Polster dieser Pflanzen sich aus sich selbst heraus erhalten: Stirbt eine Pflanze, die geblüht und ausgesamt hat, ab, so ernähren sich die Tochter-Rosetten, die Kindel, von der Materie der langsam verrottenden abgestorbenen Rosette. So gelangt deren Substanz wieder in den Nahrungskreislauf.

Mittelalter und Neuzeit

Mindestens vom Mittelalter an scheinen Hauswurze kultiviert worden zu sein, weil sie einmal als Nutzpflanzen Stroh- und Reetdächer wie Mauerkronen vor Erosionsschäden bewahrten, und zum anderen weil sie als magische Pflanzen, als Zauberpflanzen galten, die Schutz vor Blitzschlag gewährleisten sollten. Die Bezeichnungen "Donarsbart", "Jupiterbart" (= "Jovibarba"), Joubarbe, Barba di Giove, Garda Casa, Donnerkraut, Donnerwurz, Dachlauch, Dachwurz, Hauswurz usw. deuten darauf hin, dass sie auf dem Dach kultiviert wurden, und/oder dass sie als Schutz vor Blitzschlag galten - ist doch der germanische Gott Donar/Thor, wie auch der römische Göttervater Jupiter, sowie auch der griechische Göttervater Zeus den Phänomenen Blitz und Donner zugeordnet. Was ging jeweils voran? Der Brauch der Kultivation auf dem Dachfirst, oder der Glaube an Bewahrung vor Blitzschlag? Wir wissen es nicht. Das Ganze erinnert an die Frage, was zuerst war, "die Henne oder das Ei"?

Diese Bezüge zwischen Hauswurzen und Schutz vor Blitzschlag scheinen germanischen Ursprungs zu sein. Und Karl der Große gab wahrscheinlich aufgrund von Althergebrachtem die Anweisung, dass die Dächer seiner herrschaftlichen Güter mit "Jupiterbart" ("Iovis barbam") bestückt werden sollen.

Dieser Brauch überdauerte die Jahrhunderte und führte auch dazu, dass der schwedische Botaniker Carl von Linné im 18. Jahrhundert (wer es ganz genau wissen will: 1753, in seiner "Species Plantarum", was so viel heißt wie "Die Arten der Pflanzen") für den am meisten verbreiteten Hauswurz-Typ den Artnamen Sempervivum tectorum L. vorsah: Hauswurz der Dächer, Dach-Hauswurz.

Linné verwandte hierbei - nebenbei gesagt - die so genannte binäre Nomenklatur (= wissenschaftliche Bezeichnung der Tiere und Pflanzen mit groß geschriebenem Gattungs- und klein geschriebenem Artnamen). Der Gattungsname (Genus) ist hier Sempervivum, die Artbezeichnung (Spezies) tectorum, das "L." steht für den Namen des namengebenden Erstbeschreibers: Linnaeus (latinisierte Form von: Linné). Der dritte lateinische Begriff, der darauf folgte, würde dann die Unterart (Subspezies) bzw. Rasse oder Varietät kennzeichnen (z.B. Sempervivum tectorum glaucum). Kultivars (Cultivars), also Gartenformen aufgrund künstlicher Kreuzungen (Hybridisierung) oder Auslesen (Selektionen) aus der Natur oder aus Aussaaten, erhalten den Kultivarbegriff (= Sortennamen, von Menschenhand geschaffene Kulturvarietät) in Anführungszeichen, z.B. Sempervivum tectorum ‘Murale’. Unter Letzterer versteht man jenen seit altersher auf Mauern und Dächern gepflanzten Dach-Hauswurz-Kultivar mit monströsen grünen, oft mißgestalteten Fruchtblättern im Zentrum der Blüte statt des inneren Staubblattkreises, und einem verkümmerten äußeren Staubblattkreis. Auch sonst sind die Blüten anders gestaltet (blasse, nach oben gekrümmte Blütenblätter) als bei den wilden Dach-Hauswurz-Formen der Berge. Die genaue Herkunft dieses ältesten Hauswurz-Kultivars verliert sich im Dunkel vergangener Zeiten.

Man mag sich über die lateinischen Begriffe ärgern, bedenke aber dabei, dass sie für die internationale Verständigung nötig sind. Mischlinge, also Hybriden, werden durch ein x gekennzeichnet.

Es wird hier wohl zu weit führen, wenn ich meiner Meinung Ausdruck gebe, dass sich die wilden Mitglieder der Gattung Sempervivum einer solchen Klassifikation und Definition immer wieder zu entziehen scheinen. Wenn man die wisssenschaftliche Definition des Begriffes "Art" in Betracht zieht, mit der ich Sie hier verschonen möchte, dann verhält sich beispielsweise das "alpine Trio" Dach-Hauswurz, Berg-Hauswurz und Spinnweben-Hauswurz allzuoft so, als ob es zwischen ihnen keinerlei Artbarrieren gäbe, dafür aber jedwede Form von Übergängen, die sich ohne weiteres fortzupflanzen vermögen, aber das ist ein ketzerischer Einschub von mir... . Noch vager wird es bei der Festlegung von Unter-Arten und Varietäten und Standort-Formen, weswegen Gérard Dumont in seiner "Sempervivophilia" hierfür vorläufig das (eigen gewählte) Symbol § eingeführt hat... .

Doch zurück zur Verwendung dieser Pflanzen. Hauswurze, besonders Dach-Hauswurze wurden also, wie bereits ihr Name sagt, auf Dächer gepflanzt. Dazuhin wurde Sempervivum im Mittelalter und der Neuzeit - und wird dies vielleicht auch heute - als Heilpflanze verwendet (Herba Sempervivi).

Nicht zuletzt aber wurden Semperviven als Schmuckpflanzen, als Zierpflanzen verwendet, ganz sicher schon im Mittelalter, wie einige Gartenflüchtlinge aus Burggärten beweisen, die teilweise besondere Koloration aufweisen.

Der Boom im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts - und damit verknüpfte Konfusion

Im 19. Jahrhundert wurden Hauswurze offensichtlich zunächst für leicht zu erhaltende Beet- und sonstige Einfassungen verwendet. Danach war die so genannte Mosaik-Kultivation in Mode gekommen, wozu ebenfalls gerne Hauswurz-Rosetten verwendet wurden und werden, wie z.B. die Kalk-Hauswurz.

Der Boom der Hauswurze, der "Steinrosen", ist Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen und eng mit dem Aufkommen der Steingärten und der ersten farbenprächtigen Kultivare verknüpft. Gartenliebhaber waren begeistert von diesen Pflanzen. Botanische Gärten besaßen bald umfangreiche Sammlungen und suchten sich gegenseitig zu übertreffen. In dieser Zeit wurden auch die Alpen erschlossen, waren Reisen und Exkursionen in die Alpen hochmodern, mit der Folge, dass man sich auch der alpinen Botanik zuwandte. Botaniker befassten sich allerorten mit dieser Gattung, und in ihrem Übereifer wollten sie überall neue Arten beschreiben, wo es sich oft "nur" um Standortsformen, Mischlinge, Unter-Arten, Varietäten, usw. handelte. Praeger nannte dieses ausufernde Verhalten treffend "an orgy of species-making" (= eine Orgie der Artmacherei).

Im französischen Sprachraum ist Henry Correvon mit seinen "Les Joubarbes" herausragend (1929). Er schreibt in seiner Einleitung dieser großartigen Arbeit: "... Einer meiner Freunde, der Medizin studierte, hatte von seiner Jugend an einige Semperviven besessen (arachnoideum, tectorum und andere), die er in Töpfen pflegte. Er ging 1860 nach Paris, wo er seine Studien fortzusetzen hatte, und nahm seine Pflanzen mit. Dort hielt er sie in seinem Fenster in dem großen Trubel dieser Stadt, wo sie zu ihm von der natürlichen Landschaft und von den Bergen sprachen. Unlängst zeigte mir dieser Doktor, der eine lange und große Karriere hinter sich hatte, diese Semperviven-Töpfe und sagte: "Das sind genau die, die ich mit nach Paris nahm; Sie sind immer noch hier und werden treu bis zum Ende bleiben. ..."

Ja, das ist es, was die Faszination dieser Pflanzen ausmacht. Die mannigfache und oft manische Beschäftigung der Botaniker und Gärtner mit dieser Pflanzengruppe führte aber auch oft zu Konfusion. Nomina nuda entstanden, Bezeichnungen wurden mehrfach geändet.

So wurde aus Sempervivum soboliferum SIMS 1812 vierzig Jahre später Jovibarba sobolifera (L.) OPIZ 1852. Zwanzig Jahre später war die offizielle Bezeichnung dieser Pflanze Sempervivum hirtum (var.) b soboliferum (SIMS) HAZSL. 1872. 1963 heißt diese Pflanze Diopogon hirtus (L.) Fuchs ex Huber, subsp. borealis H. HUBER. Und so weiter, und so weiter. Von dem mehrdeutigen Sempervivum globiferum über Jovibarba hirta borealis ist der letzte offizielle Stand Jovibarba globifera (L.) J. PARNELL ssp. globifera J. PARNELL 1990. Bei den (resigniert habenden?) Liebhabern heißt die Pflanze dessenungeachtet Jovibarba sobolifera, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hieß, in meiner Dokumentation wieder Sempervivum hirtum soboliferum, weil unter dieser Benennung zum ersten Mal die korrekten Verwandtschaftsverhältnisse ausgedrückt waren, soweit wir dies heute wissen. Man kann sie mit gleichem Recht auch Sempervivum globiferum ssp. globiferum ZONNEVELD 1999nennen, wie ich dies in meiner Veröffentlichung über die Lochen-Jovibarben bereits vermerkt hatte, und wie dies vorher im Jahre 1999 Ben Zonneveld beschrieben hatte, wobei aber der Terminus "globiferum" schon lange für Missverständnisse gut war, wie ich in meiner Internet-Abhandlung über die Lochen-Jovibarben aufgezeigt habe (siehe dort). - Die Engländer nennen den "Sprossenden Donarsbart" wiederum "Hen and Chicken". Zugegebenermaßen ein Tohuwabohu sondergleichen, was die Angelegenheit nicht gerade leicht und anfängerfreundlich macht, und das bei einer seit alters sehr bekannten Pflanze. Soll ich auch die verschiedenen deutschen Bezeichnungen auflisten? Lieber nicht!

Man kann dies schmunzelnd sehen, bedenke aber dabei, dass Namensänderungen zwar ärgerlich sind, aber angesichts der großen Zahl von Semperviven und der stetigen Weiterentwicklung des Kenntnisstandes und der Forschung es angebracht ist, für die immer wieder auftretenden Neuerungen Verständnis aufzubringen. Freilich: Übertreiben sollte man es nicht dabei... .

Dazuhin führten Verschreibungen auf Pflanzetiketten, unleserliche Schrift und Ignoranz zu so abstrusen Bezeichnungen wie "Sempervivum californicum" (von Sempervivum calcareum, der Kalk-Hauswurz aus den Bergen Frankreichs). Obwohl Correvon bereits 1929 darauf hinwies, dass es in Kalifornien keine Hauswurze gibt und "S. californicum" folglich ausdrücklich als falschen Namen auflistet, habe ich noch in einem der heutigen Pflanzen-Einkaufsführer ein Sempervivum californicum gelesen. Fairerweise muss man dazu sagen, dass es das Werk Correvons leider nicht in deutscher Sprache gibt.

Die "goldenen" 20er und 30er

In Deutschland ist in dieser Zeit Georg Arends zu nennen. Sein altehrwürdiges Kultivar-Trio ‘Alpha’, ‘Beta’ und ‘Gamma’ (allesamt Mischlinge zwischen Spinnweben-Hauswurz-Formen und Dach-Hauswurz-Formen) entstand ebenfalls 1929. Auch Karl Foerster beförderte in den dreißiger Jahren die Steingarten- und Semperviven-Idee. Er schwärmte geradezu von "der stillen, unsäglichen Schönheit und Reichtumsfülle an Formen und Tönungen dieser wie aus dickfleischigen, vieltönig günen und braunen Blättern gebauten Rosenform" und meinte hierbei die Semperviven-Rosetten, die er gerne auch "Steinrosen" nannte. Weiter ist in Deutschland "Goos und Koenemann" mit der Züchtung S. ’Rubin’ zu nennen, mit der in den 30er Jahren auch die passende Farbe eines puren "Rot" ins Spiel gebracht wurde.

Im englischen Sprachraum ist R. Lloyd Praeger hervorzuheben, der 1932 eine grandiose Monographie dieser faszinierenden Pflanzen mit einmaligen Zeichnungen herausgab ("An Account of the Sempervivum Group). Die "Royal Horticultural Society" hatte ihn dazu beauftragt. Es wurde und ist ein Standardwerk, oft kolportiert, 1967 nachgedruckt, leider nicht auf Deutsch ...

Die Abkehr der Botaniker

Es kam zu einer Kreation von bald weit über tausend Kultivars, deren Vielfalt kaum einer mehr überschaute. Dazu die zahlreichen immer neu entdeckten "Arten", dazu die Praxis, auch Wildformen aus der Natur mit Kultivarnamen zu belegen (S. ‘Sunset’ ist eine Wildform aus dem Val Minera, S. ‘Red Flush’ offensichtlich eine Selektion (der Natur oder des Menschen?) aus den französischen Bergen, S. ‘Nigrum’ ist höchstwahrscheinlich ebenfalls eine Wildform, usw.), dazu die sich ins Unendliche erstreckende Kreuzungstätigkeit der wilden wie auch der kultivierten Hauswurze, und die Verwirrung war komplett. Oft trat man auf der Stelle. Schnell wandte sich die Botanik anderen Pflanzen zu, die Semperviven wurden als "schwierig" und schlecht durchschaubar abgetan. Und als aus der wissenschaftlichen Mode gekommen. Der "Mainstream" verlief nun woanders. Spätestens ab den 60er Jahren scheint es, als wäre in der Botanik mit diesen Pflanzen keiner mehr "hinter dem Ofen hervorzulocken" gewesen. Und die Botaniker zeigten den Semperviven "die kalte Schulter", als mit ihnen "kein Stich" mehr zu machen war.

Die 70er und 80er - Liebhaber formieren sich grenzübergreifend

Die "Sempervivum Society" in England unter Leitung von Peter Mitchell fasste in den siebziger und achtziger Jahren mit viel Fleiß den Kenntnisstand der Semperviven in Journalen und Broschüren und einer großen Sammlung zusammen. 1978 wurde die Sempervivum Society mit der internationalen Registrierung der Kultivare von Sempervivum, Jovibarba und Rosularia beauftragt. Wie wertvoll waren damals gedruckte Farbfotos - und wie selten! Sie wurden als ein kostbarer Schatz angesehen, da Beschreibungen ihnen oft nicht das Wasser reichen konnten.

Namhafte Züchter gab es in den 60ern, 70ern und 80ern - so weit ich dies überblicke - in Großbritannien, den USA, der Bundesrepublik Deutschland, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz und der Tschechoslowakei. Aus Deutschland sind hauptsächlich "Kayser und Seibert" zu nennen und natürlich Martin Haberer, wie auch Fritz Köhlein und Helen von Stein-Zeppelin. Von der Schweiz kamen Kreationen von Jakob Eschmann, aus Großbritannien von David T. Ford und Nicholas Moore, aus den Staaten von Ed Skrocki, Helen Payne und Carl Purdy, aus Belgien von Gustaaf van der Steen, aus der Tschechoslowakei von Otokar Cmiral - um nur einige der bedeutendsten Züchter zu nennen, die mir gerade einfallen.

Ein Meilenstein in Deutschland ist die wertvolle Veröffentlichung von Fritz Köhlein: "Freilandsukkulenten" (BRD 1977). Obwohl Peter Mitchell in einer Buchbesprechung meiner Meinung nach recht streng über dieses Buch urteilte (u.a. weil einige wenige Fotos nicht mit genausten Bezeichnungen versehen waren), ist dieses Buch meiner Ansicht nach eine Meisterleistung, die man auch heute noch mit enormem Gewinn liest. Natürlich ist der heutige Kenntnisstand hie und da ein anderer, aber danach darf man nicht urteilen, sondern die Leistung aufgrund des damaligen Kenntnisstandes sehen. Und der ist in diesem Buch ziemlich gut zusammengetragen. Fritz Köhlein wusste sehr genau, dass er sich oft "auf brüchigem Eis bewegte", und hat dennoch das Risiko nicht gescheut - eine Grundlagenarbeit!

1975 wurde innerhalb der Gesellschaft für Staudenfreunde eine Arbeitsgruppe für Sempervivum und Sukkulenten gebildet, unter Leitung von Martin Haberer. Doch sie hörte nach einiger Zeit mangels Interesse und aus privaten Gründen auf zu existieren.

Einbruch auch bei den Liebhabern

Ende der 80er, Anfang der 90er ging es auch bei den Garten-Liebhabern rapide bergab. Die Hauswurze galten als altbacken und bieder, und - was fast einem Todesurteil gleichkommt - als "einfache" Pflanzen, was natürlich bei weitem nicht für alle Formen stimmt, aber wen kümmerte dies schon. Die "Sempervivum Society" löste sich auf. Einer danach in den USA gegründeten "Fancier’s organisation" erging es ebenso. Das Interesse der Botaniker war sowieso schon spätestens ab den 60er Jahren erloschen. Ab Ende der 90er ist wieder ein gewisses Frühlings-Erwachen zu verspüren: Henk t’Hart, Ben J. M. Zonneveld, Phillipp Neeff und andere geben neue Signale.

Nur einige wenige Züchter wie Andre Smits und Gaston Wuyts, Belgien, Ben J. M. Zonnefeld und Cornelis Versteeg, Niederlande, sowie Gary Gosset, USA, und Martin Haberer, Deutschland, machten in den 80ern und 90er Jahren weiter - mit superben Kreationen.

In vielen Kollektionen überdauerten die "Ewig lebenden", was sie ja gut können. Viele Kollektionen werden mit großem Engagement neu eingerichtet, Dächer jeglicher Art begrünt, der Einzug der Semperviven in die Gärten eingeläutet. Und neu angelegte Alpina (Steingärten) des Botanischen Garten Tübingen, geographisch geordnet, zeigen inmitten der anderen Alpinen wohlsortierte und wohlkultivierte Semperviven in relativ guter Beschriftung. Aus dem Murtal in der Steiermark stammende Serpentin-Hauswurz, Sempervivum pittonii, ist dort sogar in echtem Serpentin zu finden. So weht ein mildes Frühlings-Düftchen des Semperviven-Interesses umher und verkündet wohltuende Aufbruchs-Stimmung. ...

Verwunderlich ist, dass bei den zahlreichen Sukkulenten-Liebhabern die exotischen Sukkulenten so hoch in Kurs stehen, während das Interesse für unsere winterharten Sukkulenten ein trauriges Schattendasein fristet, um es mal vorsichtig auszudrücken. Dabei können Semperviven einigen ihrer subtropischen Cousinen durchaus das Wasser reichen, ab und zu vermögen sie sie auch in den Schatten zu stellen. Ebenso bemerkt man, dass die Semperviven auffallenderweise gerade dort Liebhaberpflanzen sind, wo sie natürlicherweise nicht vorkommen, und umgekehrt. "Der Prophet gilt nichts im eigenen Land ...", das gilt scheinbar auch im Reich der an Trockenheit angepassten Pflanzen ... . So findet man in den Alpenstaaten kaum Semperviven als Gartenpflanzen - Ausnahmen bestätigen diese Regel, denn ich habe in Schwägalp und in Randolins in der Schweiz kultivierte Semperviven gesehen, das war es aber dann auch schon. Na ja, es gibt auch noch die Gärtnerei von Jakob Eschmann, und es gibt als ausgewiesenen Kenner der einheimischen Sukkulenten, was die Hauswurze mit einschließt, wie auch der Sukkulenten allgemein Urs Eggli, der vielen Urlaubern auch in botanischen Touren den Reiz dieser alpinen Pflanzen nahebringt. Aber die Hauptverbreitung der Semperviven-Kultivation liegt schon eher in Norddeutschland, den Niederlanden, in Belgien (das zwar eine wild lebende Population von Semperivum x funckii aufweist, die aber bestimmt einer Naturalisation entspringt), der Bretagne, Groß-Britannien und Übersee - also eher bei den "Fischköpfen" als bei den "Alpenjodlern". Zum Glück macht den Hauswurzen die salzhaltige Luft nichts aus ...

Hoffnungsvolle Anzeichen und Ausblick

Eine Wende, eine Renaissance, beinhaltet - wie gesagt - auf botanischer Seite Gérard Dumonts geniales Werk und Projekt "Sempervivophilia", verkörpern "neue" Züchter wie Volkmar Schara und einige andere (siehe in Erwin Geigers Homepage www.semper-vivum.de) und markiert die Gründung der Fachgruppe "Sempervivum und Jovibarba" (Leiter: Hans-Jörg Gensch) innerhalb der "Gesellschaft der Staudenfreunde". Hoffentlich ist ihr längeres Leben zuzuschreiben als dies der vorher Mitte der 70er Jahre bestehenden Arbeitsgruppe vergönnt war.

Die hohen Grundstückspreise in unseren sich ausdehnenden Ballungszentren führen immer mehr dazu, dass man keine großen Gärten mehr hat, wie man sie so oft in opulenten Gartenzeitschriften sieht und fast vor Neid verblasst. Viele müssen sich auf "Balkonien" oder in recht kleinen Gärten einrichten. Für sie sind Semperviven ideale Pflanzen: Schon auf kleinstem Raum kann man wunderschöne Pflanzungen gestalten. Meine eigene Sammlung begann demzufolge in einem Balkonkasten, der mit Steinen, Wurzeln und Semperviven eine Berglandschaft nachahmte. Wie froh war ich, dass ich den Kasten den Winter über draußen lassen konnte, keinen Gießdienst während meines Sommerurlaubs benötigte. Wie glücklich war ich, als die blühenden Hauswurze, des Nektars übervoll, und der sandig-lehmige Bodengrund die ersten Wildbienen anlockte. Und wie froh war ich, dass ich etwas hatte, das ein bisschen Abglanz meiner geliebten Berge in den Alltag hinüberbrachte und einen Hauch von Natur in die Ödnis des Balkons. Ja, Semperviven haben das Potential, die "Pflanzen der Zukunft" zu werden, zumindest eine große Rolle dabei zu spielen.

Durch das Internet werden "Vernarrte" und Begeisterte aus der ganzen Welt zusammengeführt. Man erfährt im Norden Deutschlands, was im Süden los ist und umgekehrt, man bekommt im Osten mit, was im Westen läuft, und umgekehrt, ohne weiteres können farbige Fotos gezeigt und von jedem an jedem Ort aufgerufen werden, in einer Vielzahl, an die früher nicht zu denken war. Informationen werden in Windeseile übermittelt, erreichen viel mehr Adressaten. Und was früher mangels Auflage nicht gedruckt oder von "Super-Kommissionen" und Redaktionen auf dürftige Reste zusammengestrichen wurde, kann nun unzensiert ins Netz gestellt werden, für die immer mehr werdenden Liebhaber der Semperviven. Dies induziert einen enormen Schub und Erkenntniszuwachs.

Natürlich ist die "Leidenschaft für die Steinrosen ...keine Marotte wie Briefmarkensammeln ..., sondern eine lebendige, herrliche Angelegenheit, die ein ganzes großes Menschenleben mit Erregung und Spannung erfüllen kann", so erkannte schon Karl Foerster. Von Kommerz-Gedanken sollten wir uns unter Liebhabern innerhalb der Fachgruppe emanzipieren. Vielleicht kommt man aber auch dazu, nicht nur "Semps like stamps" (= Hauswurze wie Briefmarken) zu sammeln, sondern auch einen Überblick anzustreben, zu sichten und zu ordnen, Martin Miklaneks Internet-Liste der Kultivars zuzuarbeiten (er war schließlich der Erste, der damit begonnen hat), fehlende Fotos für das Monumentalwerk "Diehmor" (= Horst Diehms Übersicht über die Kultivars der ganzen Welt, siehe unter www.semperhorst.de) beizusteuern, tatsächliche Neuerungen hervorzuheben, Empfehlungen auszusprechen und Tipps auszutauschen. Weiter wäre es gut, Impulse bei der wissenschaftlichen Erforschung zu geben, weitere Seiten von "Sempervivophilia" ins Deutsche zu übersetzen, die wild wachsenden Hauswurze unserer Heimat besser zu erfassen und deren Bedeutungsgehalt und Bezüge zu verstehen zu suchen. Interessant wäre es, Beziehungen zwischen Blütenbesuchern und Hauswurzen zu dokumentieren, Licht in manches Dunkel wild wachsender Hauswurze andernorts (Süditalien, Kopaonik Gora im Grenzgebiet Serbien/Kosovo, Türkei, Kaukasus, Iran ...) zu bringen und solche Beobachtungen mitzuteilen. Immer lohnend ist es, die reichhaltige Semperviven-Welt in all ihrer dynamischen Mannigfaltigkeit (Biodiversität) zu bestaunen, Grundzüge der Evolution auf dem Gebiet der sich schnell entwickelnden und entwicklungsgeschichtlich jungen Semperviven wahrzunehmen, sich schlicht auch an scheinbar Gewöhnlichem erfreuen zu können, und, und, und ...

Etwas durch wechselvolle Zeiten lebendig Erhaltenes lebt auf, blüht auf, bekommt Aufwind! Gut so!

Dieser kurze Über-, Rück- und Ausblick ist aus (süd)deutscher und subjektiver Sicht geschrieben. Natürlich sind hier nicht alle Züchterinnen und Züchter aufgelistet. Ihr womögliches Fehlen bedeutet keine Geringschätzung!

Man verzeihe mir allzu starke Vereinfachungen. Nur die gröbsten Entwicklungs-Linien konnten gezeichnet werden, Ausnahmen bestätigen wie so oft die Regel.

Der historische Teil der Übersicht basiert hauptsächlich - besonders in den ersten Abschnitten - auf der empfehlenswerten Abhandlung von Gérard Dumont: "Hauswurz und Mensch" in "Sempervivophilia", aufzurufen unter http://gdumont.multimania.com/hist_dd.htm