Sempervivum und der Aberglaube

 

 

Wie kam Sempervivum zu den vielen deutschen Namen, die etwas mit dem Haus, dem Dach oder dem Wetter zu tun haben? Zum Beispiel: Dachwurz   / Donnerwurz / Hauswurz / Donnerbart / Donnerlauch / Wetterwurz / Wetterkraut  Aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. ist uns die sogenannte „Landgüterverordnung“ ( Capitulare de villis) erhalten geblieben, die von Karl dem Großen oder dessen Sohn Ludwig dem Frommen stammen soll. Der Anfang der Verordnung scheint von Karl dem Großen zu sein, der Sohn dürfte sie dann ausgebaut haben. In dieser Verordnung werden unter anderem  72 Pflanzen aufgezählt, deren Anbau und Pflege angeordnet wird. Die Verordnung schließt die Aufzählung mit dem Satz: „ und der Landmann hat auf seinem Hause die Hauswurz zu haben.“ Nach Auffassung der damaligen Zeit schützt die auf dem Dach gepflanzte Sempervivum- pflanze vor dem Einschlagen eines Blitzes.So wurde aus einer ehemaligen Gebirgspflanze, eine Staude, die fast über ganz Europa verbreitet ist.Noch heute findet man auf  einigen alten Häusern oder Torbögen Sempervivumpolster, die schon 100 und mehr Jahre alt sind. 

 

Bild: aus Meine Grüne Welt / Ausgabe 7/2001 

Diese blitzschützende Eigenschaft bestätigt auch der Verfasser der ersten Naturgeschichte in deutscher Sprache, der Regensburger Domherr Konrad von Meenberg ( 1374) in seinem Werk

„di maister/ di sich fleizend der zauberei sprechen / daz sempervivum den donr un daz himelplatzen ( = Blitzschläge) verjag / unnd daumb pflanzet ma ez auf den häusern“ 

Otto Brunfels, der Verfasser eines berühmten Kräuterbuches um 1532, machte sich bereits über diese Volksanschauung lustig und spöttelte:

„must freilich ein stumpffer und ein doller Blytz sein / den solchiges klein kreutlein solt wierlegen“ 

Die tiefe Ursache dieser Volksanschauung mag in der Naturbeobachtung liegen. Hauswurze in ihrer exponierten Lage auf dem Dach sind den größten Unwettern ausgesetzt und bleiben meistens unversehrt. Andererseits der Erfahrungswert, dass Häuser auf deren Dächer Sempervivum wächst, tatsächlich viel weniger vom Blitz getroffen werden. 

Die landläufige Meinung war lange, dass die Pflanzen sich nur auf Dächern ansiedeln lassen, bei denen das Stroh schon etwas älter und daher auch eine gewisse Feuchtigkeit aufweisen. Ein neues  trockenes Strohdach geriete eher in Brand als ein altes, das feucht ist. Die moderne Naturwissenschaft und Technik hat aber eine andere einleuchtende Begründung gefunden: Jedes Blatt von Sempervivum endet in eine feine Spitze, die den elektrischen Spannungsausgleich zwischen Erde ( Dach) und Luft erleichtert. Durch diesen ununterbrochenen Ausgleich kommt es erst gar nicht zur Funkentladung durch den Blitz. Diese Erkenntnisse brachten es mit sich, dass die Blitzableiter alter Art als überholt angesehen werden und vom sogenannten „Blitzschutz“ immer mehr verdrängt werden. 

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                                         Mit Sempervivum bepflanztes Dach an meinem Haus                                                                

Heute zieht man den Blitz nicht mehr an und leitet ihn ab, sondern schützt sich vor der Blitzentladung durch Anbringung einiger Büschel fein gespitzter Drähte auf dem Dach, natürlich mit entsprechender Erdung, die den elektrischen Spannungsausgleich laufend auslösen. Diese Büschel der feingespitzten Drähte ist genau der Rosette von Sempervivum mit ihren spitzen Enden nachgeahmt.

Man muss nur immer wieder unsere Vorfahren bewundern, die ohne wissenschaftliche Vorbildung, ohne Labor und Instrumente  immer das richtige aus den verfügbaren Mitteln auswählten. Also, doch nicht nur Aberglaube.

Nun zum richtigen Aberglauben: 

In einigen Gegenden wurden beim Herannahen eines Gewitters Sempervivumblätter im Herdfeuer verbrannt. Diese Blätter mussten jedoch am  Johannistag ( 24. Juni) von den Pflanzen auf dem Dach gepflückt worden sein. 

In Süddeutschland hängte man die Blätter auch in die Schornsteine, damit die Hexen nicht hineinfahren konnten. 

Als schlechtes Omen galt es, wenn schneeweiße Blüten erschienen. Dieses bedeutete den baldigen Tod einer Person, Bei rötlichen Blüten stand ein erfreuliches Ereignis bevor.

 

Ein Schornstein mit Sempervivum- und Sedumarten, entdeckt in Inzell 2000

Der Saft  von Sempervivum vermengt mit Gummi, rotem Arsenik und Alaun soll auch eine tolle Mischung ergeben: Auf die Hand gestrichen, ermöglicht sie das Anfassen von glühendem Eisen. 

Warzen wurden entfernt, indem man in sie hineinstach, bis ein Tropfen Blut kam. Dann wurde die Stelle mit dem Saft eines Blattes eingerieben und anschließend  die ganze Pflanze mit Beschwörungsformeln  weggeworfen ( somit auch die Warze). Bei der ganzen Prozedur durfte man nur rückwärts gehen. 

Viele weitere Anwendungen in der Naturheilheilkunde sind an anderer Stelle aufgeführt.

-siehe Inhaltsverzeichnis-